Heimerziehung in den 50-er und 60-er Jahren: Als Heimerzieher (bis 2010) habe ich mit deren Geschichte beschäftigt. Offen blieb die Verbindung zu der „Wohlfahrt“ im Nationalsozialismus. Hier nun der kleine Versuch, einige „persönliche“ Beziehungen herzustellen.
Ein Stück in 8 Kapiteln.
Erstes Kapitel: Am Anfang
Schenk mir ein wenig Deiner Zeit
Leih mir Dein Ohr
Folg mir ein Stück, und sei bereit
Für einen Blick in die Vergangenheit
Als praktisch alles schon verloren schien
Als würde die Geschichte weiter zieh`n
Nur ohne uns … die Stunde Null
Und wir dann trotzdem weiter machten
Weiter weinten, weiter lachten
Weiter liebten, weiter betrogen
Weiter schworen, weiter logen
Weiter blieben, weiter zogen
Und dann war da etwa jeder Zehnte
Der sich schämte
Tatsächlich war die Zeitenwende …. zu Ende
Es gab keine Revolte, keine Gesinnungshatz
Ein jeder blieb an seinem Platz
Zweites Kapitel: Am Bahndamm
Der Damm aus Schotter, die Schwellen aus Eiche
Die Schienen aus Eisen und nirgends ´ne Weiche
Und mal weißer Dampf und mal schwarzer Ruß
Das rhythmische Stampfen der Kolben als Gruß
von bedrohlicher Nähe, aus der Ferne dagegen
das Pfeifen, dass sich Gefühle von Fernweh regen
Und links geht’s zum Werk, nur ein Kilometer
Hier werkelten schon unserer Väter Väter
An Granaten und Bomben aller Kaliber
Bis, geschüttelt wie von heißem Fieber
Der Tod hier um sein Leben bangte
Der ständig nach Nachschub verlangte
Der Zwangsarbeiter war der Sklave
Der höllischen Enklave
Hier herrschte das faschistische Regime
Das manchmal fast normal erschien
Und plötzlich war es dann vorbei …. irgendwie und einerlei
Kein Fieber mehr, nur Leichenblässe
Der Sieger las die letzte Messe
Nun bauen sie dort Pfannen mit Stiel und Töpfe mit Henkel
Doch wovon sollen sie leben, zukünftig, unsere Enkel
Das mit der Wirtschaft, das ist ein Auf und Nieder
Und das mit den Granaten und Bomben, das wird schon wieder
Und deshalb herrscht eine große Zuversicht
Das bald die neue Zeit anbricht
Und rechts geht’s in die Stadt, nur drei Kilometer
Gleich gemacht, ob Opfer oder Täter
Weil sie in Schutt und Asche lag
Ausradiert an einem Tag
Als die Geister nicht mehr schliefen, die sie riefen
Drittes Kapitel: Im Barackenlager
Fünf Baracken, ein Waschhaus, drei Klos gibt es hier
Und ein schönes Depot für Tabak, für Korn und natürlich für Bier
Am Rand des Platzes dann viel Gerümpel
Und ein Stück weiter ein stinkender Tümpel
Es lässt sich wohl das Wasser nicht von den Fäkalien scheiden
Weshalb auch die Kinder unter Ausschlag leiden
Und an manchen Tagen wird Abfall verbrannt
Dann zieht sowas wie Romantik durchs Land
Und ab und zu lässt die Staatsmacht sich sehen
Auch der ist klar, hier muss was geschehen
Doch haben deren Aktivitäten …. andere Prioritäten
Und vor tausend Jahren
Als alle vor Größe besoffen waren
Da waren die Baracken nichts weiter
Als Behausungen für die Zwangsarbeiter
Wer heute seine Miete nicht zahlt, eins, zwei, drei
Den bringt die Obdachlosenpolizei … vorbei
Das kleine Depot, nicht ohne Komfort, ist jetzt überdacht
Es bietet Schutz auch über Nacht
Doch lass Dir von all dem nicht das Gemüt verdunkeln
Man kann hier auch feiern und singen und schunkeln
Es wird auch wieder im Stechschritt marschiert
Und von rauen Männerstimmen intoniert
Durch die dunkle Stille schallt
Das Lied von schönen Westerwald
Eukalyptusbonbon … über Deine Höhen pfeift der Wind so kalt
Jedoch der kleinste Sonnenschein dringt tief ins Herz hinein
Nur Karl mit seinem abben Bein … stimmt nicht mit ein
Er bleibt, was er immer war und heute noch ist … ein Zivilist
Viertes Kapitel: Karl
Und dann ist da Karl mit dem abben Bein
Deshalb wird auch nichts mehr wie früher sein
Ihm wurden die besten Jahre geklaut
Die Liebe, Familie, alles versaut
Als Soldat hat man ihn in die Pfanne gehauen
Als Kriegsversehrter darf er nun in die Röhre schauen
Seine Frau ist weg, sie hat den Bahndamm überwunden
Und ist mit ´nem Befreier in die Staaten verschwunden
Doch, mach Dir keine Sorgen, nimm´s nicht so schwer
Es ist nicht so, dass Karl ganz ohne Hilfe wär´
Denn jeden dritten Dienstag, so gegen halb drei
Kommt jemand von der Krüppelfürsorge vorbei
Vor dem Krieg saß er hoch auf dem Traktor
Jetzt spielt er im Keller des Werks den Kalfaktor
Die Fenster vergittert, doch er will hier nicht raus
Das Werk und der Keller, sie sind sein Zuhaus
Die da oben, die zwitschern schon wieder gestelzt und gedrechselt
Dabei haben sie nur den Verein gewechselt
Lasst sie doch oben hüpfen und picken wie Spatzen auf dem Mist
Das kratzt Karl nicht, weil er der König im Keller ist
Obwohl jeder es ahnte und keiner was wusste
Und Karl es wollte, obwohl er nicht musste
Er hütet für Heide, sein Kind, über das er nicht spricht
Eine silberne Spange, auf dass nicht die Kette bricht
Der Generationen der Frauen, der Mütter
Durch Zeiten mal süß und mal bitter
Ach ja, das Leben verpasste ihm manchen Dämpfer
Er ist nun mal kein großer Kämpfer
Doch eines noch: ich glaube, er ist einer von denen
Die sich schämen
Fünftes Kapitel: Marek
Da ist auch Marek aus Polen, aus Lodz genau
Was er hier noch sucht, das versteht keine Sau
Hier beim Volk der Schinder und der Henker
Oder doch bei dem der Dichter und der Denker?
Nun, es gehört wohl zum Siegen
Dass Sieger nach Belieben, Völker verschieben
Es wurden, zuweilen über Nacht
Den Menschen einfach Beine gemacht
Es wurde dann nicht lange gebeten
Es hieß ganz einfach: mit dem Koffer antreten
Für viele Polen ging es damals von Osten nach Westen
Selektiert von den Deutschen als die Stärksten und Besten
Jetzt fuhren die Züge von Westen nach Osten
Wir scheuen keine Mühen und wir scheuen keine Kosten
Meinten die Sieger und Befreier, die Alliierten
Als sie Menschen verschickten, die Repatriierten
Doch in ihrer geschäftigen Hast
Verpassten sie, dass Marek den Zug verpasst
Denn er sagte sich: ich will hier bleiben
Ich lass mich hier nicht einfach vertreiben
Denn ein Land in Trümmern ist ein weites Feld
Das verwildert, verkrautet und unbestellt
Leute braucht wie mich, den Polen
Der alles besorgt, ob Holz oder Kohlen
Der handelt mit Schrott, mit Flaschen und Lumpen
Und der Leute hat, die Geld bei ihm pumpen
Obwohl keiner es wusste aber jeder was ahnte
Dass Marek schon bald ganz kräftig absahnte
Denn im Großen wie auch im Ganzen
Lässt er schon mal die Puppen tanzen
Im Lagerdepot
Das er betreibt, und sowieso
Sind die Zeiten auch schlimm, und sind sie gar schlimmer
Tabak und Schnaps läuft immer
So sieht er der Zukunft ganz freudig entgegen
Des einen Leid ist des anderen Segen
Und Du fragst Dich vielleicht, wes Geistes Kind er ist
Ich glaube, er ist einfach nur ein Realist
Sechstes Kapitel: Herr Dr. Krüger
Ja, das ist er nun, unser lieber Herr Krüger
Der Dr. jur. war nicht nur klug, er war auch klüger
Am Erbgesundheitsgericht, vor tausend Jahren
Als alle noch vor Größe besoffen waren
Da war er Richter und Kläger
Ein harter Hund, ein großer Jäger
Er, der zum Thema promovierte
Wie man den Zwang legitimierte
Den Zwang gegen Menschen, die allein und verlassen
Nicht in das Bild vom Übermenschen passen
Und wenn er das Menschenrecht verletzte
Dann nach dem Gesetz, das er sich selber setzte
Doch auch ihm gelang es, zu überwintern
Und sitzt jetzt mit seinem strammen Hintern
Als Richter am Vormundschaftsgericht
Das ist in Ordnung, das stört ihn nicht
Justitias Waage wurde einfach neu geeicht
Insofern fällt ihm auch das Richten leicht
Nur … vor tausend Jahren
Als alle vor Größe besoffen waren
Da hatte er ein Ideal gefunden
Die Vermehrung der Starken und Gesunden
Der Volkskörper sollte genesen
Am arischen Wesen
Doch Ideale sind wie Güter
Mal Sonderangebot, mal Ladenhüter
Nun, Idealismus ist, so wie es scheint
Doch weiter nichts als „gut gemeint“
Und mitunter …. leidet er darunter
Siebtes Kapitel: Heide
Und die Geschichte von Heide, noch zart und fein
Beginnt für mich in den 50er-Jahren, im Kinderheim
Nachdem die Mutter über Nacht verschwand
Und das Amt befand
Dass es wohl so besser für sie wäre
Und deshalb gab sie sich die Ehre
Die Anstalt mit ihrem Glanz zu erhellen
Und Willkür und Ohnmacht in den Schatten zu stellen
Hier lernte sie, was sich geziemt
Sozusagen das, was der Unterwerfung dient
Und wer auch versuchte, sie zu beschämen
Konnte ihr doch die Würde und den Stolz nicht nehmen
So kam es, dass keine Zumutung sie störte
Weil sie wusste, dass sie an den Bahndamm, zum Vater gehörte
Und zu ihrem Glück, kam sie zurück
Mittlerweile gereift
Und mit Warnungen und Mahnungen eingeseift
Und weisst Du, was ihr ganzer Stolz war?
Die silberne Spange für ihr schwarzes Haar
Und eines Tages wird auf ihren Locken
Die Spange wie ein Krone hocken
Denn schon als Kind, da war ihr klar
Dass sie eine schöne Prinzessin war
Und irgendwann würde sie ganz allein
Die Königin vom Bahndamm sein
Und es wächst eine Rose am Bahndamm heran
Schön, stolz, wehrhaft und irgendwann
Wird sie gebrochen, von einem Prinzen vielleicht
Obwohl auch Otto Normalverbraucher reicht
Und so kam es, wie es kommen musste
Obwohl keiner es glaubte und jeder es wusste
Ein heißer Tag schleppt sich durchs Land
Wie Wirbelwind staubt feinster Sand
Und Kinder mit der Botschaft durchs Lager rennen
Heut Abend wollen wir Abfall verbrennen!
Was soll der Quatsch mit dem Gestank?
Der Wind steht gut, der zieht den Bahndamm entlang!
Das junge Volk ist freudig erregt
Das Schnapsdepot wird gründlich gefegt
Und Marek hat sich sogar rasiert
Wer weiß, was heute noch passiert
Und Karl trägt die Hose, die gute, die alte
Die mit der scharfen Bügelfalte
Nur Heide hält sich vornehm zurück
Vorläufig jedenfalls, doch dann zum Glück
Der Männer, ihr Auftritt im vollen Glanz
Der Funken des Feuers im sprühenden Tanz
Und weisst Du, was ihr größtes Glück war?
Es war die silberne Spange im Haar
Und sie ließ auf ihren dunklen Locken
Die Spange wie ein Krone hocken
Dass niemand, und wer es auch sei, vergisst
Wer hier heut die Königin vom Bahndamm ist
Und als das Feuer verglüht
und sich der Rauch verzieht
Eine trunkene Stimme, wie im Selbstgespräch
Sich über die Stille des Lagers legt
Oh Heideröslein, nimm Dich in Acht
Oh Heideröslein, was der Jäger macht
Er brach die Rose, und gab sie ihr
Oh Heideröslein, er will Dein Herz dafür
Doch es kam, wie es kommen musste
Obwohl keiner es glaubte und jeder was wusste
Die Rose gebrochen, der Strauch verdorrt
Es schien alles anders, am gleichen Ort
Und nach neun Monaten, wer hätte es gedacht
Hat Heide Karl zum Opa gemacht
Ja, ja, ich weiß, aus heutiger Sicht gäbe es sicher Bedenken
Doch Heide freut sich einfach nur Leben zu schenken
Und Du fragst Dich vielleicht, wer der Erzeuger war
Es war Marek, der Rasierte, ist doch klar
Und fast wäre sie, sie hat es erwogen
Mit ihrem Kind zu Marek gezogen
Doch ein Leben mit ihm wäre ihr zu alkoholisch
Seine Erwartung an Frauen etwas zu katholisch
Denn es ist, weiß Gott, nicht ihr bestreben
Ihm alles zu vergeben
So müssen sie, ihr Kind und der Staat ohne Vater auskommen
Das hat Vater Staat ihr übel genommen
Und so hat sie, oh Graus
Das Jugendamt im Haus
Damit kommt auch Herr Krüger ins Spiel
Denn am hiesigen Vormundschaftsgericht
Tut Dr. Krüger seine Pflicht
Doch diesmal gibt er sich zivil
Ihm reicht es schon, das Kind ihr zu entziehen
Ihr kurzes Glück ist nur geliehen
Der Schmerz dagegen ist von Dauer
Die heiße Sehnsucht, die tiefe Trauer
Kein liebes Wort, keine stille Rast
Kein helles Lachen, keine wilde Hast
Heilt diese Wunde
An keinem Tag, zu keiner Stunde
Und weisst Du, was ihr größter Schatz war?
Es war die silberne Spange, die nie wieder
Liess sich auf ihre Locken nieder
Eine Königin wurde nicht mehr gebraucht
Auch dann nicht, wenn das Feuer raucht
Achtes Kapitel: Zum Ende
Schenk mir ein wenig Deiner Zeit
Leih mir Dein Ohr
Das Ende der Geschichte …. es ist soweit
Denn eines, über die Jahre lässt Heide keine Ruh`
Es bleibt an ihr kleben, wie Scheiße am Schuh
Die silberne Spange, die, glaub ich, nur silberfarben war
Krönte nie wieder ihr schönes, ihr lockiges Haar
Denn die Locken wurden ein Opfer der Schere
Ein Bubikopf zierte ihr Haupt als wäre
Strenge und Härte in ihr Leben gezogen
Und das hat manchen Zeitgenossen bewogen
Zu glauben, dass sie jetzt die Herrscherin vom Bahndamm sei
Doch auch mit dem Lager war es irgendwann vorbei
Ein verlorenes Kind und ein verlorenes Reich
War das des Schicksals letzter Streich?
Und irgendwann später, da traf ich sie
Ich weiss nicht genau wo und wann und wie
Und wir kamen dann auch auf die alten Zeiten
Egal, Du kennst ja die Einzelheiten
Nur soviel: Am Ende sagte sie
Ich kann warten, und warten, und dauert´s auch lange
Irgendwann bekommt Karin, mein Kind, die silberne Spange